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Generalstreik

Im Grunde wären wir nach Dominica und les Saintes – Inseln, die zum Guadeloupe Archipel gehören und der Hauptinsel vorgelagert sind  – gern bis zur Hauptinsel vorgestossen und dort eine Weile geblieben. Dann entschieden wir uns aber, Lena nach Martinique zurückzubegleiten, von wo aus ihr Rückflug in die Schweiz startete (sie versuchte auf Guadeloupe umzubuchen, was aber nicht gelang). Es war wohl besser so: In der zweiten Nacht nachdem wir in Martinique zurück waren, gab es einen Toten in Guadeloupe. Auch sonst scheint es dort nach einem Monat Streik ungemütlich: Strassensperren, nächtlicher Vandalismus und leere Läden.

In les Saintes bekamen wir nicht all zu viel vom Streik zu spüren: Leere Bankomaten, lichte Regale in den Läden, fehlende Säcke an den Kassen und Vanilleeismangel im Restaurant. In Martinique dauert der Streik zwar noch nicht so lange – er wurde am Tag als wir nach Dominica lossegelten, also am 5. Februar, ausgerufen -, seine Folgen sind aber für uns nun deutlich spürbar: Vom Schiff aus in St. Pierre hörten wir die DemonstrantInnen und sahen wie sich Autos auf der Strasse stauten. An Land stellten wir fest, dass die Autos vor einer Tankstelle Schlange standen. Der Treibstoff ist auf 30 Euros rationiert. Öffentliche Transportmittel wie die Taxis collectifs oder die Navette zwischen Fort-de-France und la Pointe du Bout fahren stark reduziert. In Fort der France sind die Läden zu 90% geschlossen. Wenn wir einkaufen, geht es mittlerweile nicht mehr darum, die neuen Lücken in den Regalen zu orten, sondern täglich zu kontrollieren, ob nicht etwas Neues geliefert wurde. An einem Tag sind es Joghurts, am nächsten Tag Eier und am übernächsten Kiri Streichkäse. Mit den lokalen Märkten und mit unserem schiffseigenen Laden – Markus wird berichten – kommen wir aber noch lange nicht zu kurz (bis auf Klo- und Haushaltspapier). Last but not least wurde der Carnaval abgesagt.[1]

Bei dem Generalstreik ist man „contre la vie chère“ (gegen das teure Leben). Die Kaufkraft ist innerhalb von einem Jahr drastisch gesunken und hat Familien mit geringem Einkommen stark getroffen. Produkte wie Mehl, Teigwaren, Reis, Huhn und Schwein – die auf dem Speisezettel von der weniger begüterten Schichten ganz oben stehen – sind in der Guadeloupe im Durchschnitt um 18% teurer geworden, in Martinique um 8% – wobei die Preise hier 2007 bereits höher lagen -, während dem das Einkommen bloss um 3% zunahm. Zudem ist der Preis des Treibstoffes gestiegen, was sich wiederum auf den Preis von Transportmitteln und anderen Dienstleistungen auswirkte.
So  geht es primär darum, eine Verbilligung von Basisprodukten und eine Lohnerhöhung der Mindesteinkommen zu bewirken.

Die Situation wird dadurch verschärft, dass man die Preise mit jenen der métropole vergleicht. Die Preise der Lebensmittel sind in Martinique in den letzten 11 Jahren 40% mehr gestiegen als in der métropole. Dies liegt daran, dass beim Import die verschiedenen Zwischenglieder, die Teuerung mit der sie zu schaffen haben, auf das nächste Glied abwälzen. Die Löhne sind in den letzten 12 Jahren in der métropole und in Martinique im gleichen Ausmass erhöht worden. Doch wurden sie anders verteilt: Die Löhne der Haushalte mit dem geringstem Einkommen, die 20% ausmachen, stagnieren hier. Die 20% der Haushalte mit den nächst höheren Löhnen haben nur eine geringfügige Lohnerhöhung bekommen.
Folgende Sozialindikatoren zeigen ausserdem eine Differenz zwischen der métropole und Martinique:
-Ende 2007 erhalten in Martinique 8% RMI (Integrationsmindestlohn), während in Frankreich es bloss 2% sind.
– 22% Arbeitslosigkeit in Martinique im Vergleich zu 8,1% in der métropole
– 12% von Armut Betroffene in Martinique gegen 6,1% in der métropole und dies obwohl die Armustgrenze in Martinique weitaus tiefer gesetzt wird (5060 Euros pro Jahr und Person in Martinique gegenüber 7225 Euros in der métropole).

Die Frage, ob der Vergleich mit der métropole für alle gesellschaftlichen Erscheinungen gerechtfertigt ist, ist allerdings fraglich. Der Vergleich  mit den anderen karibischen Ländern schien jedenfalls genauso angemessen – wenn nicht angemessener – und würde aufzeigen, wie gut man im Vergleich zu unabhängigen Inseln wegkommt (zum Beispiel Jamaica). Marlène J. Hospice, Ethnologin, schreibt im France-Antilles vom 18.02.2009, dass der Streik auf Frankreich ausgerichtet ist und sich kein anderes Land in der Umgebung einen solchen leisten könnte:

La grève n’est pas une remise en profondeur tournée vers une vision auto-centrée et territorialisée du réel martiniquais, elle est assimilationniste à un point superlatif ne reposant que sur le cordon ombilical avec la France. Si elle est territorialisée, alors elle assume sa dimension fondamentale dans la Caraïbe e elle sait qu’elle n’échappe pas à la morphologie géopolitique, historique, sociale et culturelle propre à toutes les îles de la Caraïbe. Aucune des îles de la Caraïbe ne pourrait se payer un grève d’un mois  paralysant tous les secteurs d’activité et menée par ses salariés les mieux protégés et les mieux payés. (p. 6)

Wie abhängig Martinique vom Import  – die Mehrheit der Produkte stammen aus Frankreich –  ist in den Supermärkten nicht zu übersehen: Blumenkohl aus Deutschland, Äpfel aus Amerika (Dole), Grapefruit aus Israel (Carmel) und dies wenn die hiesigen Bäume unter der Last von Grapefruit offensichtlich schwer zu tragen haben. Der Besucherin scheint die Möglichkeit für die eigene Lebensmittelproduktion gegeben, ist doch der Boden das ganze Jahr fruchtbar. Auch andere karibische Länder importieren Produkte, doch ist in den dortigen Supermärkten eine grössere Palette von hauseigenen Produkten zu finden. In Martinique findet man diese fast ausschliesslich auf lokalen Märkten.
In Sachen Energie ist Martinique  ganz und gar auf die Aussenwelt angewiesen, obwohl  Solar-, Wind- und Wellenenergie reichlich vorhanden wären.

Als waschechte Schweizerin stehe ich dem Phänomen Streik an sich naturgemäss  skeptisch gegenüber. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie gross der Anteil der Bevölkerung ist, der dieses Mittel gegen offensichtliche Missstände freiwillig mitträgt. Wenn Benzin rationiert wird, können viele nicht mehr in die Arbeit fahren. Wenn öffentliche Transportmittel nur mehr sporadisch fahren ebenso. Wenn „Brigaden“  umhergehen und schauen, welche Geschäfte offen haben, fühlen sich womöglich die einen oder die anderen unter Druck, das Geschäft zu schliessen (eine Frau erzählte mir in Fort-de-France, dass manche Läden offen hätten und die Store hinunter schieben würden, wenn jemand vom „collectif du 5 février“ in der Nähe wäre).Wer kann sich es denn wirklich leisten zu streiken? Am ehesten Leute, die staatliche Stelle haben und einen regelmässigen Lohn beziehen, am wenigsten Selbständige.
Auf der anderen Seite steht die Gefahr für diejenige, die am Streik teilnehmen wollen, deren Unternehmen aber die Bewegung nicht mittragen. Es soll auch schon eine Kündigung wegen Streikteilnahme gegeben haben.
Sollte vor einem Generalstreik nicht eine Abstimmung in der Bevölkerung stattfinden?

Der Streik ist auch eine Plattform den ursprünglichen Anliegen anderes beizumengen: So nutzen die  Kommunisten die Gelegenheit, etwas veraltete Parolen verlauten zu lassen:  

Le combat fondamental est que nous devons débarrasser la Martinique de la domination coloniale, que notre peuple doit maitriser son destin en conquérant l’Indépendance et ériger un Etat martiniquais pour construire une société nouvelle où les profiteurs n’auront pas leur place. (J.P. Etile pour le PKLS, Flugblatt vom 10.02.2009)

Andere meinen dagegen: „Il y a certaines personnes ki veulent l’indépendance, c’est une foutue couillonnade“ (aus einem sms, das im France-Antilles vom 19. Februar erschien).
Die Aussage eines békés – die Sklaverei habe auch ihr Gutes gehabt – ihrerseits erhitzt die Gemüter  und verstärkt die zunehmende Tendenz – die lange Reaktionszeiten aus Paris tragen wohl das Ihre dazu bei – aus der ökonomischen Krise eine rassistische  Frage zu machen. Es wird vermehrt von den békés gesprochen und den „profiteurs“, wohl mehrheitlich Weisse, die auf dem Rücken der Schwarzen einkassieren. Offensichtlich gibt es sie sie noch, aber ebenso offensichtlich ist, dass die alten Wunden noch nicht verheilt sind.

Sarkozy hat Hilfe zugesichert. Anscheinend macht er sich Sorgen, um die Ferienwohnungen der Nation. Wirtschaftlich ist das Geschäft wohl auch nicht zu unterschätzen: Zumindest verfügen Air France, France Télécom oder die CMA-CGM (französische Containerschiffs-Reedereien) hier über eine Monopolstellung. Der Absatzmarkt für Lebensmittel ist vielleicht auch nicht zu vernachlässigen.  

 Andrea


[1] Auch Schulen sind geschlossen.